Dr. Heinrich Lösche: Lassen sich die diluvialen Breitenkreise usw. rekonstruieren?
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I. Einleitung.
In hohen Breiten, auf den arktischen Inseln finden sich ausgedehnte Ablagerungen, die nur in
einem äquatornahen Klima entstanden sein können. In der Nähe des Äquators dagegen kennt man für
gewisse geologische Zeiten weit verbreitete Blocklehme, die nur als Ablagerungen eines gewaltigen In
landeises gedeutet werden können. Am besten sind ohne Zweifel diese auffallenden Tatsachen mit der
Annahme zu erklären, daß der Pol seine Lage im Laufe der geologischen Perioden verändert hat.
Wegener und Koppen (52*) haben auf Grund der Ablagerungen, die man für bestimmte
Zeiten auch bestimmten Klimazonen zuordnen kann, den Versuch unternommen, die sich ändernde Lage
des Pols von Karbon bis Tertiär zu bestimmen. Einer groben Untersuchung vermag diese Festlegung
der vergangenen Polbewegung wohl standhalten. Jedoch je genauer unsere Kenntnisse werden, um so
weniger ist das der Fall. Das gilt in verstärktem Maße für die letztvergangene Erdperiode, für das
Diluvium. Von einem für die Erdgeschichte sehr kurzem Zeitraum sind uns eine Unmenge Tatsachen
bekannt. Der Pol bewegte sich in dieser Zeit nach der Meinung Wegeners auffallend rasch, von Alaska
über Südgrönland zu dem Orte, den er heute einnimmt.
Alle Argumente, die von Wegener für diese diluviale Polveränderung angeführt werden, lassen
auch eine andere Erklärung zu. Sie sind zu unbestimmt; man kann ihnen vielleicht entnehmen, daß
eine Änderung stattgefunden hat, vielleicht auch in welcher Richtung, aber wohl nie in welchem Maße.
Man bleibt auf Schätzungen angewiesen.
Die Zweifel würden sich sogleich klären, wenn auf irgend eine Weise die Breitenkreise des
Diluviums in die Landoberfläche eingraviert worden wären; das würde der Fall sein, wenn die Sonnen
strahlung, die ja bei westöstlich gerichteten Formen mit verschiedenen Neigungsrichtungen am unter
schiedlichsten zur Geltung kommt, imstande wäre, gestaltend zu wirken.
Die Landschaften Mitteleuropas verdanken ihre Ausgestaltung wohl zum allergrößten Teil dem
Diluvium. Deutlich sind zwei Formengruppen zu unterscheiden, die Passarge mit den Begriffen Vor
zeit- und Jetzzeitformen wohl am schärfsten erfaßt hat. Nur mit der Klimabesserung vom Diluvium
zum Alluvium, mit der damit verbundenen Änderung der ausgestaltenden Kräfte sind diese beiden
Formengruppen zu erklären.
Es taucht die Frage auf: Gibt es Vorzeitformen, die eine feste Orientierung zur Himmelsrichtung
besitzen?
Im vergangenen Jahre machte Professor Passarge den Verfasser auf die kurzen Angaben
aufmerksam, die S c h o s t a k o w i t s c h (96 S. 420) über die Täler der Frostbodengebiete Sibiriens in
seiner Arbeit „Der ewig gefrorene Boden Sibiriens“ mitgeteilt hat. Die Frostbodentäler seien dort, so
berichtet Schostakowitsch, um so ungleichseitiger ausgestaltet, je mehr sie sich dem Breitengrade, und
um so gleichseitiger, je mehr sie sich dem Längengrade nähern. Gleichzeitig wies Professor Passarge
auf die ungleichseitigen Täler im Erzgebirgsbecken hin, die bisher ganz ungenügend erklärt waren.
Kann der Nachweis geführt werden, daß diese ungleichseitigen Täler Vorzeitformen sind, die unter
ähnlichen Bedingungen sich gebildet haben, wie sie jetzt noch in Sibirien bestehen, und kann festge
*) Die Zahlen beziehen sich auf den Schriftnachweis S. 36 ff.